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Eine Bohnenstange!

Statistiken: eine öde Zahlensteppe? Nicht, wenn man sie mit einer Fachfrau wie Ursula Adam an der Seite durchstreifen kann. Die Soziologin arbeitet am Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg (ifb). Für uns hat sie statistische Daten in berufstätige Mütter, Patchwork-Familien und aktive Großeltern verwandelt. Und wir haben gelernt: Familien verwandeln sich zunehmend in Bohnenstangen! Neugierig? Dann begleiten Sie uns in die spannende Welt des ifb-Familienreports!

Das Staatsinstitut für Familienforschung

Das Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg (ifb) widmet sich als einzige sozialwissenschaftliche Einrichtung in Deutschland allein der Familienforschung. Seit 1994 untersucht ein Forschungsteam die Lebensbedingungen und Bedürfnisse, die Lebensgestaltung sowie den Wandel von Lebensumständen und Lebensweisen von Familien. Zu den wichtigsten Projekten des Instituts gehört der ifb-Familienreport Bayern. Die Daten werden in Befragungen von Familien gewonnen, ausgewertet und in Tabellenbänden und Berichten bereitgestellt. Sie liefern eine Grundlage für Politik und Verwaltung, Verbände und Wissenschaft, um die Familienpolitik immer wieder neu an aktuelle und absehbare Entwicklungen anzupassen. Das ifb ist eine Behörde des Bayerischen Familienministeriums und ein An-Institut der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

Erklärt

„An-Institut“ nennt man eine eigenständige wissenschaftliche Einrichtung, die an eine Hochschule angegliedert ist, ihr jedoch nicht gehört.

Über Ursula Adam

Porträtfoto: Ursula Adam.

Ursula Adam ist Soziologin. Seit 2011 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Staatsinstitut für Familienforschung. (Foto: Ursula Adam/ifb)

In ihrer wissenschaftlichen Arbeit betrachtet Ursula Adam nicht nur Eltern und Kinder, sondern auch die Generationen der (Ur-)Großeltern. Was leisten sie heute in den Familien? Und was bedeutet es für erwachsene Kinder, wenn ihre Eltern Unterstützung oder Pflege brauchen? Außerdem hat Ursula Adam gemeinsam mit Harald Rost den Tabellenband zum ifb-Familienreport 2017 herausgegeben.

Mehr Wahlmöglichkeiten für Frauen

Frau Adam, der ifb-Familienreport 2017 bietet eine Fülle von Daten. Worüber staunt die Soziologin?

Ursula Adam (lacht): Auffallend sind für mich die Daten zur Erwerbstätigkeit von Müttern. Was sich seit den 1970er-Jahren verändert hat, sind die Wahlmöglichkeiten. Früher konnten Frauen meist nur entscheiden, ob sie Vollzeit oder gar nicht arbeiten wollen. Heute gibt es ganz viele verschiedene Modelle von Teilzeitarbeit. Frauen nutzen die Teilzeit, um Familie und Erwerbstätigkeit – vielleicht auch eine Karriere – zu vereinbaren.

Aber spricht man nicht von der „Teilzeit-Falle“, die z. B. dazu führt, dass erwerbstätige Mütter durch die Teilzeitarbeit später eine deutlich geringere Rente bekommen?

Das ist natürlich ambivalent. Wenn man Mütter fragt, dann wünschen sie sich ausdrücklich Teilzeitmodelle – vor allem, wenn sie Kindergarten- oder Grundschulkinder haben. Andererseits festigt die Teilzeitbeschäftigung von Frauen das sogenannte Eineinhalb-Verdiener-Modell. Das ist übrigens ein typisch westdeutsches Phänomen. In den ostdeutschen Bundesländern arbeiten traditionell mehr Frauen Vollzeit.

Und die Väter?

Da hat sich wenig verändert. Mehr als 90 Prozent der Väter arbeiten weiterhin ganztags. Und wenn Männer Väter werden, arbeiten sie eher noch mehr als vorher.

Weil es am Arbeitsplatz entspannter zugeht als zu Hause?

Ich denke, das hat verschiedene Gründe. Die Arbeitgeber reagieren oft positiv, wenn Männer Väter werden und erhöhen ihr Gehalt. Das übt aber natürlich auch einen gewissen Druck aus. Gleichzeitig haben Väter ja durchaus auch finanzielle Motive: Die Kosten steigen natürlich, wenn man Kinder bekommt.

GESAGT

Mehr als 90 Prozent der Väter arbeiten weiterhin ganztags. Und wenn Männer Väter werden, arbeiten sie eher noch mehr als vorher.

Vier große Familientrends

Welche weiteren Entwicklungen können Sie feststellen?

Die Soziologie hat in Deutschland vier große Trends ausgemacht. Als ersten die Pluralisierung – also die zunehmende Vielfalt – von Lebensformen. Familien mit verheirateten und unverheirateten Eltern, alleinerziehende Mütter und Väter, Eltern mit verschiedenen Nationalitäten, Patchwork-Familien, Regenbogenfamilien. Zehn bis 15 Prozent der Familien sind heute Stieffamilien – in unterschiedlichsten Formen. Mal bringt ein Partner ein Kind mit in die Familie, mal beide, dann bekommen sie vielleicht noch gemeinsame Kinder …

ERKLÄRT

Patchwork-Familie ist eine Bezeichnung für Stieffamilien, die – wie eine Patchwork-Decke – bunt zusammengesetzt sind.

In einer Regenbogenfamilie leben Kinder und gleichgeschlechtliche Eltern zusammen. Der Begriff bezieht sich auf die Regenbogenflagge der Bewegung lesbischer, schwuler, bisexueller und Transgender-Menschen.

Kleines Mädchen in festlichem Kleid, dahinter Hochzeitspaar.

Erst Kinder bekommen und dann heiraten: ein echter Trend in Deutschland, haben Soziologen festgestellt. (Foto: Shutterstock)

Ein weiterer Trend ist der Rückgang der Familiengröße: Immer mehr Familien haben ein oder zwei Kinder. Diese Entwicklung ist wesentlich für die gegenwärtige Geburtenrate: Es bekommen nicht unbedingt weniger Paare Kinder. Doch die Paare bekommen weniger Kinder als früher! 1970 hatten noch 20 Prozent der Eltern drei oder mehr Kinder. Heute sind es noch 10 Prozent.

Trend Nummer drei ist die Entkoppelung von Elternschaft und Eheschließung. Früher haben die meisten Paare geheiratet und dann Kinder bekommen. Heute leben viele Menschen in Deutschland auch als Eltern unverheiratet zusammen. Oder sie nehmen die Geburt des ersten Kindes zum Anlass zu heiraten. Der Anteil nichtehelicher Geburten ist in Bayern zwischen 2000 und 2015 um 10 Prozentpunkte auf 27,5 Prozent gestiegen.

Der vierte große Trend ist die spätere Familiengründung. Frauen sind bei der Geburt ihres ersten Kindes im Schnitt 30,1 Jahre alt.

Und wie alt sind die Väter?

Das Alter der Väter wird nicht erfasst. Da müsste man ja die Frauen fragen, wer der biologische Vater ihres Kindes ist … Das wäre ziemlich indiskret. Wir wissen aber, dass bei Ehepaaren – übrigens über die Kulturen hinweg – der Mann durchschnittlich zweieinhalb Jahre älter ist als die Frau. Die frischgebackenen Väter dürften also im Schnitt Anfang dreißig sein.

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

Die Soziologie spricht von vier großen Familientrends in Deutschland:

  1. „Mutter, Vater, Kind“ ist zwar noch die häufigste, aber nur eine von vielen verschiedenen Familienformen.
  2. Die Zahl von Familien mit drei und mehr Kindern geht zurück.
  3. Heiraten und Kinder bekommen: Das gehört nicht mehr zwingend zusammen.
  4. Paare gründen immer später eine Familie. Frauen sind im Schnitt 30,1 Jahre alt, wenn sie ihr erstes Kind bekommen.

Welche Schlüsse können Sie aus diesen Trends ziehen?

Der demografische Wandel schreitet voran. Das heißt, langfristig betrachtet werden Familien einen immer kleineren Anteil an der Bevölkerung haben.

Geben Sie auf Grundlage Ihrer Untersuchungen Empfehlungen ab?

Mit Empfehlungen halten wir uns zurück. Wir benennen mögliche Handlungsfelder. Das größte – und leider furchtbar schwammige: Familien brauchen mehr gesellschaftliche Anerkennung! Familien müssen immer mitbedacht werden: in politischen Programmen, in Unternehmen, Kommunen, in der Nachbarschaft. Vor einigen Jahren haben wir Eltern in der Stadt und auf dem Land nach ihren Wünschen gefragt. In den Großstädten war der allergrößte Wunsch: mehr Kita-Plätze, vor allem für Kleinkinder. Das war 2012, inzwischen wurde das Angebot deutlich ausgebaut. Doch die Nachfrage steigt weiter. Auf dem Land wünschen sich Eltern mehr Freizeitangebote für Jugendliche, wie Treffpunkte und Einrichtungen vor Ort. Denn um die Angebote in den Städten der Region zu erreichen, fehlt es oft am öffentlichen Nahverkehr.

DAS WICHTIGSTE IN KÜRZE

Die meisten Familien wünschen sich mehr Anerkennung. Konkretere Wünsche hängen vom Wohnort ab: Für Familien in Großstädten sind Kita-Plätze am wichtigsten; im ländlichen Raum sind gut erreichbare Freizeitangebote für Jugendliche besonders gefragt.

Viele Mütter in Bayern sind erwerbstätig

Gibt es eigentlich die typisch bayerische Familie?

In Bayern folgen Familien noch eher dem traditionellen Muster. Es gibt nicht so viele Scheidungen wie im Bundesdurchschnitt und mehr Ehepaar-Familien – also Familien, in denen die Eltern verheiratet sind.

Zwischen Stadt und Land können wir deutliche Unterschiede feststellen. In den Großstädten und ihrem Umland leben deutlich mehr alleinerziehende Mütter und auch alleinerziehende Väter. Im ländlichen Raum ist die traditionelle Familienform stärker verbreitet. Und die Eltern haben dort häufiger drei oder mehr Kinder.

Interessant ist auch: In Bayern ist ein größerer Anteil der Mütter erwerbstätig. Eine Ursache ist wahrscheinlich die gute Wirtschaftslage in Bayern. Viele Mütter finden einen Job, wenn sie arbeiten möchten.

GESAGT

In Bayern ist ein größerer Anteil der Mütter erwerbstätig. Eine Ursache ist natürlich die gute Wirtschaftslage in Bayern. Viele Mütter finden einen Job, wenn sie arbeiten möchten.

Was die Kinderbetreuung betrifft, gibt es nach wie vor einen klaren Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland. In den westdeutschen Bundesländern sehen es Eltern häufig als ideal an, dass Kinder ab drei Jahren in die Kita gehen. In Ostdeutschland ist die Betreuung in der Kinderkrippe für die unter Dreijährigen üblich. Auch deshalb, weil die Eltern es als Kinder selbst so erlebt haben und als normal empfinden.

„Hallo Uromi!“ oder: die Bohnenstangenfamilie

Welche Bedeutung spielen die Großeltern in den Familien?

Ältere Frau mit Säugling auf dem Arm.

Dass Kinder mit Großeltern und sogar Urgroßeltern aufwachsen, kommt heute immer öfter vor. Grund ist das steigende Lebensalter: Früher waren die (Ur-)Großeltern oft nicht mehr am Leben, wenn die Kinder zur Welt kamen. (Foto: Shutterstock)

Die Menschen werden immer älter. Vor hundert Jahren haben die Älteren die Geburt ihrer Enkel oft schon nicht mehr erlebt. In der Familie haben sie deshalb lange Zeit keine große Rolle gespielt! Das hat sich verändert: Mehr und mehr Kinder und Jugendliche haben die Chance, ihre Großeltern und sogar Urgroßeltern kennenzulernen und Lebenszeit mit ihnen zu verbringen. Ältere Menschen sind oft noch sehr fit und aktiv – und damit auch attraktiv als Babysitter. Tatsächlich stehen in der Rangliste der wichtigsten Betreuer für Kinder die Großeltern inzwischen auf Platz drei, hinter den Eltern und der Kita.

Familien, die drei oder vier Generationen umfassen, setzen sich also durch?

Ja. Wir sprechen heute von Bohnenstangenfamilien. Die Familien wachsen weniger in die Breite – wer hat heute noch 50 Cousinen und Cousins? –, sondern in die Höhe. Sie werden schlanker und älter.

Wie erleben die Generationen ihre Bohnenstangenfamilie?

Das ist sehr unterschiedlich. Viele Großeltern genießen das Zusammensein mit ihren Enkelinnen und Enkeln. Sie müssen keine Erziehungsfunktion erfüllen. Sie dürfen ganz die netten Großeltern sein und die Kinder verwöhnen. Andere sind selbst noch erwerbstätig oder wohnen nicht unbedingt am selben Ort wie Kinder und Enkel. Dann gestaltet sich natürlich auch die Beziehung zwischen den Generationen anders. Grundsätzlich ist der Zusammenhalt zwischen den Generationen heute aber sehr stark und das hat in den letzten Jahrzehnten eher zugenommen.

Blitz-Antworten: „Familie ist …“

  • … heute: völlig unterschiedlich! Und sie wird immer noch vielfältiger.
  • … für unsere Gesellschaft: der Grundbaustein.
  • … in Bayern: noch immer die häufigste Lebensform.
  • … für Väter: erfreulicherweise immer wichtiger!
  • … für mich: der wichtigste Anker in meinem Leben.