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Wer sich im Nest trifft

Armin Kraus ist Architekt in Gemünden am Main. Wenn hier junge Paare vom Nestbau sprechen, dann meinen sie meist das Einfamilienhaus. Wie sieht es aus, das Nest von heute? Wie viel Platz haben die Kinder, wo trifft sich die Familie? Und was passiert mit den Kinderzimmern, wenn die Kleinen längst groß und flügge sind? Mit derselben Geduld, mit der Armin Kraus die Wohnträume von Familien ergründet, hat er unsere Fragen beantwortet. Lesen Sie selbst!

Über Armin Kraus

Porträtfoto: Armin Kraus.

Armin Kraus, Architekt. (Foto: Astrid Eckert)

Armin Kraus führt ein Architekturbüro im unterfränkischen Gemünden am Main. Mit seinem Team saniert er Kirchen, Klöster und öffentliche Gebäude; außerdem entwirft er Neubauten, v. a. Einfamilienhäuser. Seit 2005 ist Armin Kraus freier Mitarbeiter der Beratungsstelle Barrierefreiheit für den Raum Nordbayern. Am Planungsprozess mag er besonders die ganz frühe Entwicklungsphase gemeinsam mit den Bauherren. Typische Häuslebauer sind junge Paare, die ihr erstes Kind erwarten oder gerade bekommen haben. Sind die Kinder schon größer, dürfen sie oft mitreden.

Liebe Familie: Wie lebt ihr miteinander?

Herr Kraus, für wen bauen Sie?

Armin Kraus: Ich baue für Einzelpersonen und Familien, oft auch für große Gruppen, z. B. wenn ich Kirchen oder Klöster saniere. Das ist eine spannende Aufgabe: In der Kirchengemeinde in einem Ort herrscht oft ein ganz anderer Spirit, eine andere Stimmung, als in der Gemeinde ein paar Kilometer weiter. Ich finde es schön, mich immer wieder auf die Menschen einzustellen, die Gebäude nutzen.

Wie erforschen Sie die Stimmung einer Familie, die ein Haus bauen möchte?

Ich nehme mir für den ersten Termin viel Zeit und höre sehr genau zu. Mich interessiert, wie die Familie miteinander lebt, ob ihnen viel Miteinander wichtig ist, eine offene Gestaltung, oder ob jeder seinen Rückzugsraum haben sollte. Meist haben die Familienmitglieder schon Vorstellungen und Wünsche. Die können aber ziemlich weit voneinander abweichen. Dann werde ich auch mal zum Vermittler zwischen den Parteien, beziehe einen Standpunkt, gebe Empfehlungen. Manche Bauherren setzen Details, die sie in Zeitschriften oder bei Freunden gesehen haben, wie ein Puzzle zusammen. Meine Aufgabe ist es, die vorgefasste Meinung der Bauherren zu beleuchten und zu bewegen. Gemeinsam entwickeln wir ein Konzept, das nicht nur gefällt, sondern auch ein Leben lang zur Familie passt.

Auf Ihrer Website zitieren Sie den 1924 verstorbenen Architekten Louis Sullivan: „So wie du bist, sind auch deine Gebäude.“ Bezieht sich diese Aussage auf die Architekten oder die Bewohner?

Auf beide! Ich gebe diesen Gedanken jedem meiner Bauherren mit. Übrigens prägt nicht nur der Bauherr sein Haus – ein Gebäude kann auch die Menschen beeinflussen, die darin leben. Man kann sich ein raffiniertes Gebäude bauen und darin selbst Raffinesse entwickeln. Man kann offen bauen und selbst an Offenheit gewinnen. Räume und Raumsituationen können Menschen beschwingen und beleben.

Es ist übrigens nicht allein das Wohnumfeld, das Menschen und unsere Gesellschaft beeinflusst, sondern das gesamte Lebensumfeld. Denken Sie nur an Ihren täglichen Weg zur Arbeit: Wenn er stumpfsinnig ist, kann ich nichts Positives daraus ziehen. Wenn er Abwechslung und angenehme Eindrücke für die Sinne bietet, komme ich ganz anders am Arbeitsplatz an.

Neuer Begegnungsraum, neue Treffpunkte

Seit wann gibt es eigentlich familienfreundliches Bauen?

Die Idee, dass jeder Mensch das Recht hat, anständig zu wohnen, trocken, hygienisch, mit Tageslicht und eigenen Zimmern, entstand erst Anfang des 20. Jahrhunderts mit den Gartenstädten und später, in den 1930er-Jahren, am Staatlichen Bauhaus. Bis sich diese Ideen verbreiteten, lebten Menschen aus der Arbeiterklasse oft unter unwürdigen und ungesunden Umständen. Verbreitet war z. B. das „Trockenwohnen“: Arme Menschen bezogen Wohnungen, in denen der Mörtel noch nicht ausgetrocknet war. Durch ihre Körperwärme und ihre Atemluft sorgten sie dafür, dass die Wohnungen schneller trockneten – und die wohlhabenden Mieter dann behagliche Wohnräume beziehen konnten. Familienfreundliches Wohnen ist also: soziales Wohnen.

ERKLÄRT

Mit zunehmender Verstädterung stieg im 19. Jahrhundert weltweit die Wohnungsnot in den Ballungszentren. Viele Menschen hausten ohne Tageslicht, dicht gedrängt, in schlechter Luft und ohne Privatsphäre. Als Gegenbewegung verbreitete sich um die Wende zum 20. Jahrhundert die Idee der Gartenstädte: menschenfreundliche Siedlungen im Umland der großen Städte mit Einfamilienhäusern, Schulen, Läden, Kirchen, Arbeitsplätzen – und gut durch öffentliche Verkehrsmittel vernetzt.

Das Staatliche Bauhaus, 1919 in Weimar gegründet, war eine Kunstschule. Sie prägte das Design und die Architektur in Deutschland im Stile der Neuen Sachlichkeit. Höchstes Ziel waren die Funktionalität und die soziale Dimension des Bauens.

Bis in die 60er-Jahre wurde eher kleinteilig gebaut. Seit den 70er-Jahren plant man großzügiger. Wenn wir Wohnungen oder Häuser aus den 60ern modernisieren, nehmen wir Wände raus und lösen die kleine Küche, das kleine Esszimmer und das enge Wohnzimmer in einen großzügigen Bereich auf. Damit entsteht auch neuer Begegnungsraum, in dem sich die Familienmitglieder treffen.

Was sind typische Bausünden im Einfamilienhaus?

Ich rate davon ab, für jede Lebenssituation und jeden Bedarf einen eigenen Raum zu bauen: für Gäste, zum Bügeln, fürs Hobby, für die Heimwerkerei ... Dieses Schubladendenken verbraucht viel Platz und schafft viele kleine Räume, die nur selten genutzt werden. Besser sind großzügige Räume, die man vielseitig nutzen kann. Wenn ich Gäste habe, bügele ich sowieso nicht. Warum also nicht die Näh- und Bügelecke im Gästezimmer einrichten?

Auch Stauraum und Lagerraum sind wichtige Themen, wenn man über eine wirtschaftliche Nutzung von Einfamilienhäusern spricht. Im Idealfall hat also das Gästezimmer noch eine große Schrankwand für Sportsachen und Winterkleidung. Die müssen dann nicht im Kinderzimmer untergebracht werden ...

Wie groß sollte es denn sein, das Kinderzimmer?

Ein gut geschnittenes, helles Zimmer mit 16 Quadratmetern, ein- oder zweimal ummöbliert im Laufe eines Kinderlebens, gibt buchstäblich genug Spielraum.

Auf dem Land hat man mehr Platz, hier geht der Trend Richtung 20 Quadratmeter. Wenn man mehrere Kinder hat, ist das, auch mit Blick auf die begrenzte Nutzungsdauer, schon ziemlich viel. Ich habe ein Haus für eine Familie mit vier Kindern entworfen; alle Kinderzimmer sollten in einem Stockwerk liegen. Da kommt man, mit Flur und Bad, auf rund 95 Quadratmeter. Ein Gebäude wird so groß wie das größte Stockwerk. Rechnet man also dieselbe Fläche nochmal für Keller, Erdgeschoss und Dachgeschoss dazu, wird das schon ein richtig großes Ding. Die Frage ist: Wie nutzt man so viel Raum, wenn alle Kinder aus dem Haus sind?

Was wünschen sich Jugendliche für ihr Zimmer?

Sie bedienen sich oft an Klischees, an Details, die sie vielleicht in einem Hotel oder in Filmen gesehen haben. Das kann eine Duschschnecke fürs Familienbad sein oder, ganz toll, ein begehbarer Kleiderschrank im eigenen Zimmer. Ganz wichtig ist Jugendlichen, dass ihre Zimmer möglichst weit weg vom gemeinsamen Wohnbereich liegen. Am liebsten wäre ihnen ein eigener Zugang. Der ist übrigens gar nicht verkehrt: Wenn die Kinder eines Tages ausziehen, kann dann eine Einliegerwohnung geschaffen werden.

Zum Beispiel für die Großeltern?

Ja, das kommt öfter vor, dass die junge Generation auszieht und die ältere unterschlüpft. Wir erleben auch immer häufiger, dass mehrere Generationen unter einem Dach wohnen. Bei uns im Maintal gibt es viele Hanggrundstücke; da bietet sich die kleinste, unterste Etage für die Großeltern an. Im Hauptgeschoss liegen die Wohnräume für die Familie und unterm Dach das Elternschlafzimmer und die Kinderzimmer.

Spielt dann auch das barrierefreie Bauen und Wohnen eine Rolle?

Auf jeden Fall – aber längst nicht nur, wenn Alt und Jung zusammenwohnen. Vor 15 Jahren haben die jungen Häuslebauer noch ganz aus ihrer aktuellen Situation heraus geplant. Über Barrierefreiheit hat niemand geredet. Inzwischen ist das Thema in den Medien und in der Gesellschaft angekommen. Jetzt denken schon 30-Jährige nicht nur an die Eltern, sondern auch ans eigene Alter. Jeder will heute eine bodengleiche Dusche. Das ist nicht nur eine gute „Altersversicherung“, sondern auch schick, komfortabel und pflegeleicht. Gern baut man heute auch einen Aufzugschacht ein, damit man im Falle eines Falles einfach einen Aufzug nachrüsten kann. Junge Familien bauen sich ihr Zuhause heute so, dass sie möglichst lange darin leben können.

Blitz-Antworten: „Familie ist ...“

  • ... für Architekten großartig, weil: jede Familie und jedes Haus ganz individuelle Anforderungen stellt.
  • ... für Architekten fürchterlich, weil: Bauen so teuer geworden ist!
  • ... auf 80 Quadratmetern: nur mit sehr viel Geschick machbar.
  • ... im eigenen Haus: ein Leben lang gut aufgehoben.
  • ... in Unterfranken: gut versorgt mit Natur, Kultur- und Freizeitangeboten. Die Wege sind kurz: Nicht nur in Würzburg ist viel geboten, sondern auch vor Ort, in der Region.
  • ... für mich persönlich: der Dreh- und Angelpunkt – das Zentrum meines Lebens.

ÜBRIGENS

Laut Viertem Sozialbericht lag die Wohnfläche pro Einwohner in Deutschland 2013 bei 54 Quadratmetern. In Bayern betrug sie im selben Jahr 56 Quadratmeter.

(Quelle: Vierter Sozialbericht, Kapitel „Wohnen“, Seite 137 ff.)