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Zusammen stark
Familie ist heute etwas anderes als noch vor 50 Jahren. Diesen Wandel beobachtet und ergründet Prof. Dr. Sabine Walper, die seit vielen Jahren und derzeit am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in der Jugend- und Familienforschung tätig ist. Für die Psychologin ist klar: Familie ist Vielfalt, Zusammenhalt, Nähe – und oftmals mehr als Mutter-Vater-Kind. Ein Interview über Erziehung, Familienbande und die Frage, warum es so wichtig ist, in die Paarbeziehung zu investieren.
Inhaltsverzeichnis
Über Prof. Dr. Sabine Walper
Seit 2012 arbeitet Prof. Dr. Sabine Walper als Forschungsdirektorin am Deutschen Jugendinstitut (DJI) in München. Ihr Schwerpunkt: Familienforschung und Familienpolitik. Zuvor war die Psychologin über zehn Jahre an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig. Auch während ihrer Professur für Pädagogik lag ihr Fokus auf der Jugend- und Familienforschung – ein Bereich, in dem sie „immer stark verankert“ war und welchem sie bis heute treu geblieben ist. Für die Mutter von zwei Söhnen bedeutet Familie zum Beispiel: zur Stelle zu sein und gleichzeitig Freiräume zu lassen.
Über das Deutsche Jugendinstitut
1963 gegründet, beschäftigt sich das Deutsche Jugendinstitut (DJI) seit über 50 Jahren mit den Lebenssituationen von Kindern, Jugendlichen und Familien. Als eines der größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitute Europas ist es außerdem Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik sowie wichtiger Impulsgeber für die Fachpraxis. Das DJI widmet sich u. a. den Themen Scheidungsfamilien, kinderreiche Familien sowie Elternschaft und Partnerschaftlichkeit.
Besondere Nähe
Was ist Familie für Sie als Psychologin?
Prof. Dr. Sabine Walper: Mit der steigenden Vielfalt von Lebensformen hat sich auch das Verständnis von Familie verändert. Patchworkfamilien, alleinerziehende Eltern oder gleichgeschlechtliche Paare mit Kind werden als Familie akzeptiert. Strukturelle Merkmale verlieren also an Bedeutung. Im wissenschaftlichen Sinn ist mittlerweile nur noch ein Strukturmerkmal von Familie wichtig: Familien umfassen mehrere Generationen, die sich fürsorglich aufeinander beziehen. In der Bevölkerung scheint allerdings auch die Partnerschaft noch ein bedeutsames Merkmal von Familie zu sein: Nur 60 Prozent der Bevölkerung sehen heute alleinerziehende Eltern mit ihren Kindern als Familie – zwar deutlich mehr als noch vor 10 Jahren, aber da ist noch „Luft nach oben“.
GESAGT
Diese besondere Nähe und der Zusammenhalt innerhalb der biologischen oder sozialen Bande, aber auch Kontrolle und Konflikt – all das ist Familie.
Familie ist der zentrale Ort, an dem Kinder Schutz, Fürsorge, Anleitung und Anregung erfahren. Ansprache und Fürsorge brauchen aber auch ältere Menschen von jüngeren Generationen. Was Familie ausmacht, ist die Qualität der Beziehungen – sie sind im Allgemeinen belastbarer als andere soziale Konstellationen wie Freundschaften. Diese besondere Nähe und Vertrautheit, die Bereitschaft, sich jemandem zu öffnen und sich gegenseitig zu unterstützen – auch ohne rasche Gegenleistung – ist zentral für Familien. Der Zusammenhalt innerhalb der biologischen oder sozialen Bande, aber auch Kontrolle und Konflikt – all das ist Familie.
Wie hat sich die Institution „Familie“ in den letzten Jahren entwickelt?
Vor noch 50 Jahren war klar: Spricht man von Familie, ist die sogenannte Kernfamilie gemeint – die Reproduktionsgemeinschaft, also das Ehepaar, das mit den gemeinsamen Kindern in einem Haushalt lebt. Das ist zwar immer noch die häufigste Familienkonstellation, in der Kinder aufwachsen (70 Prozent der Haushalte mit minderjährigen Kindern), aber: Daneben haben sich z. B. mit steigendem Trennungsrisiko und mehr gleichgeschlechtlichen Partnerschaften auch andere Lebensentwürfe entwickelt. Vor allem Trennungsfamilien sind komplexer geworden, weil heute der getrenntlebende Elternteil stärker für die Kinder präsent bleibt. Oft entstehen dann durch neue Partnerschaften der Mutter oder des Vaters „elternreiche“ Familien.
GESAGT
Es ist längst nicht mehr so, dass Männer für das Geld und Frauen für die Liebe zuständig sind.
Was heute wirklich anders ist: Auch nach einer Trennung bemühen sich ehemalige Paare oft um eine gemeinsame Elternschaft – was übrigens meist reibungsloser verläuft als angenommen. Väter zeigen heute auch insgesamt ein stärkeres Engagement in der Betreuung und Erziehung der Kinder. Es ist längst nicht mehr so, dass Männer nur für das Geld und Frauen für die Liebe zuständig sind.
Was belastet Familien heute besonders?
Es gibt klassische Probleme wie finanzielle Engpässe, Arbeitslosigkeit und Krankheit, auch psychische Erkrankungen, die alle Familienmitglieder betreffen. Gerade im Bereich psychischer Erkrankungen hat sich die Familientherapie entwickelt und als sehr hilfreich erwiesen. Dabei geht es weniger um das Graben nach Gründen und nicht um die Schuldfrage. Es geht darum, wie man Familien unterstützen kann, wenn ein Mitglied erkrankt ist – mit Informationen über Probleme und Herausforderungen über Beratungen bis hin zur Familientherapie.
Es gibt aber auch neue Herausforderungen und Belastungen. Vor allem im Bereich Elternschaft – mit der Erziehung und Bildung der Kinder – haben sich die Erwartungen und Anforderungen verändert. Das hat zu neuen Unsicherheiten und Belastungen von Eltern beigetragen. Aber auch die Anforderungen an Paarbeziehungen haben sich geändert: Es gibt keine klare Rollenverteilung mehr; außerdem sind Dinge wie Absprachen, Aushandlungen und Verständigung wichtiger geworden. Gute Kommunikation ist zentral für eine Partnerschaft. Hohe Trennungsraten sprechen dafür, dass das oft nicht gelingt. Ich würde mir wünschen, dass mehr Paare rechtzeitig kommen und sich Unterstützung holen – wenn sie merken, dass ihre Beziehung nicht mehr auf festen Füßen steht. Es wundert mich, dass es in diesem Bereich keine stärkere öffentliche Initiative gibt. Die Unterstützung von Eltern in Erziehungsfragen ist heute ganz geläufig, ja selbstverständlich – aber im Bereich Partnerschaft muss sich jeder allein zurechtfinden. Wir sollten uns mehr darum bemühen, wirksame Angebote zu schaffen, die Paare unterstützen. So können sie ihre Stärken besser entwickeln und problematische Entwicklungen abwenden.
Und was macht Familien stark?
Eine zentrale Stärke ist der Zusammenhalt der Familie. Zur Stelle zu sein und gleichzeitig Freiräume ermöglichen, die jeder braucht – das ist ein gutes Rezept für Familien. Wir wissen inzwischen, wie einflussreich die Qualität der Beziehung zwischen den Eltern ist – wie gehen sie miteinander um, wie reden sie miteinander? Die Stimmung in der Paarbeziehung wirkt sich auch auf die Beziehung zu den Kindern aus. Wo Eltern viel miteinander streiten, leidet oft auch die Erziehung und die Beziehung zu den Kindern. Und oft streiten auch Geschwisterkinder mehr. Von einer Partnerschaft kann also eine große positive, aber auch eine zerstörerische Kraft ausgehen. Eltern sind die Architekten des Familienhauses. Wir müssen unbedingt in die Partnerschaften investieren, denn das ist entweder das volle Konto oder aber die Hypothek, die Eltern ihren Kindern mitgeben.
Haben Sie einen Rat für junge Eltern?
Wenn das erste Kind kommt, sind viele Eltern überfordert. Denn: Sie wollen möglichst alles richtig machen, haben aber keine oder nur wenig Erfahrung mit Kindern. Das bedeutet Stress – und das ist auch normal. Um alles Wichtige über ihr Kind zu lernen, brauchen Eltern Zeit, Geduld und starke Nerven. Und: Sie brauchen Rückhalt – vor allem in der Partnerschaft, aber auch von den eigenen Eltern und Gleichgesinnten (also anderen Eltern, mit denen man sich austauschen kann). Es hilft, wenn man sich nicht nur auf das Kind konzentriert, sondern auch die Partnerschaft ihren eigenen Raum behält.
GESAGT
Eltern sind die Architekten des Familienhauses. Wir müssen unbedingt in die Partnerschaften investieren, denn das ist entweder das volle Konto oder die Hypothek, die Eltern ihren Kindern mitgeben.
Die Paarbeziehung wird schnell vernachlässigt. Dann besteht die Gefahr, dass man sich aus dem Auge verliert und Kleinigkeiten zum Problem werden. Es ist deshalb gut, sich Zeit für den Austausch zu nehmen, gemeinsam etwas Schönes zu machen und die guten Erfahrungen zu bewahren. Sonst werden die kleinen Enttäuschungen, die sich im Alltag oft ergeben, zu groß. Mein Tipp: Paare sollten sich nicht nur bei Problemen unterstützen, sondern sich auch bei positiven Erlebnissen und Erfolgen füreinander freuen. Kurz: Es geht darum, nicht nur im Notfallmodus zu handeln, sondern den anderen umfassend im Blick zu behalten.
Tipp
Paare sollten sich nicht nur bei Problemen unterstützen, sondern sich auch bei positiven Erlebnissen und Erfolgen füreinander freuen.
Wie unterscheidet sich das Verständnis junger Menschen und älterer Generationen von Familie?
Jüngere Menschen sprechen öfter von Wahlverwandtschaften, sie sehen also auch gute Freunde als Familie. Das würden ältere Menschen weniger sagen. In Wahlverwandtschaften mag es leichter fallen, einen guten Gleichklang zu finden und zu erhalten. Aber es zeigt sich auch: In Familien sind die Mitglieder eher bereit, unausgeglichene Beziehungen zu leben – wenn der eine mehr gibt als der andere. In Freundschaften ist das eher schwierig.
Was bedeutet Familie für Sie persönlich?
Die Familienforschung konzentriert sich stark auf die Eltern-Kind-Beziehung, die Partnerschaft und teilweise auf Geschwisterbeziehungen. Aber sie beschäftigt sich kaum mit den Beziehungen zu Tanten, Onkeln oder Schwiegereltern. Für mich gibt es aber eben auch diese größeren Verbünde – das Markenzeichen von Familien in der weiteren Vergangenheit. Ich persönlich komme aus einer weitverzweigten Familie und habe das immer als große Bereicherung erlebt.
Heute leben wir zwar in einer Gesellschaft, in der man auch ohne einen großen Familienclan gut auskommt. Für mich persönlich ist Familie aber mehr als „Eltern-Kind“. Eltern sind die Regisseure der Beziehungswelten von Kindern. Aber Großeltern, Tanten und Onkel können eine große Bedeutung haben. So können sie vermitteln und aushelfen, wenn Kinder mal Schwierigkeiten mit den Eltern haben. Meine persönliche Beobachtung: Jugendliche schätzen diese Möglichkeit.