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Ganz anders? Ganz normal!
Wer sind die führenden Fachleute in Familienfragen? Na logisch: Familien! Kommen fünf oder sechs Eltern zusammen, kann man sicher sein: Diese Runde vereint geballte Kompetenz, hat schon jedes Problem(chen) überstanden, jede Krise durchlitten, alle Erziehungsmethoden erprobt, sämtliche Tricks getestet (und die besten herausgepickt). Das Projekt ELTERNTALK bringt deshalb Mütter und Väter an einen Tisch und miteinander ins Gespräch. Lernen Sie hier Nagihan Sisman und Nuray Arslan kennen: zwei Mütter, die ELTERNTALKs moderieren.
Was ist ELTERNTALK?
ELTERNTALK – talk (englisch) = Gespräch – sind Gesprächsrunden für Eltern von Kindern bis 14 Jahren. Geleitet werden sie von ehrenamtlichen Moderatorinnen und Moderatoren, die selbst Mütter oder Väter sind. Das Ziel: Erfahrungen und Tipps austauschen, Anregungen gewinnen, sich vernetzen und gemeinsam neue Stärken entwickeln – fürs Abenteuer Familie. Themen der ELTERNTALKs sind Erziehung, Konsum, Medien und Suchtvorbeugung.
ELTERNTALK gibt es an mehr als 40 Standorten in Bayern. An ELTERNTALKs nehmen im Schnitt vier bis acht Eltern teil – zu 90 Prozent sind dies Mütter; doch Väter sind natürlich herzlich willkommen. Meist lädt eine Teilnehmerin zu sich in die Wohnung ein; aber auch in der Kita, einer Schule oder anderen öffentlichen Räumen können sich Eltern zum Austausch treffen. Es gibt ELTERNTALKs auf Deutsch, Türkisch, Russisch und vielen weiteren Sprachen. Eine Talkrunde dauert zwei Stunden. Die Teilnahme ist kostenlos.
Betreut und entwickelt wird ELTERNTALK von der Aktion Jugendschutz Bayern e. V. Seit Projektstart im Jahr 2001 wird ELTERNTALK vom Bayerischen Familienministerium begleitet und finanziert. Seit 2008 fördert das Bayerische Gesundheitsministerium zusätzlich das Modul „Suchtprävention“.
Nagihan Sisman und Nuray Arslan
Nagihan Sisman und Nuray Arslan sind gemeinsam mit sechs weiteren Moderatorinnen bei ELTERNTALK im Landkreis Mühldorf aktiv. Ihre wichtigste Aufgabe sehen sie darin, die Idee von ELTERNTALK zu verbreiten. Deshalb besuchen sie z. B. Kitas und Schulen und bieten dort Talkrunden an.
Nagihan Sisman lernte ELTERNTALK als junge Mutter 2009 kennen. 2011 bildete sie sich zur Moderatorin weiter. Seither leitet sie regelmäßig Elterngespräche. Außerdem arbeitet sie u. a. ehrenamtlich als Übersetzerin in der Flüchtlingshilfe. Nagihan Sisman hat drei Kinder.
Nuray Arslan stieg 2012 als Moderatorin bei ELTERNTALK ein; außerdem ist sie Medientrainerin und Medien-Kursleiterin. Ihre beiden Kinder erzieht Nuray Arslan allein. Daneben schloss die gelernte Krankenschwester ein Fernstudium in Sozialer Arbeit ab. Heute arbeitet sie in Teilzeit in einer Arztpraxis. Über ELTERNTALK sagt Nuray Arslan: „Der Erfahrungsaustausch macht mir jedes Mal wieder viel Spaß – und ich lerne selbst immer noch etwas dazu.“
Ich bin kein Freak und mein Kind auch nicht.
Eltern reden doch sowieso viel über ihre Kinder. Warum brauchen sie ELTERNTALK?
Nagihan Sisman: Man redet als Mutter natürlich viel über die Kinder. Aber ich persönlich wollte mit anderen Familien gezielt über Themen sprechen, die in den jeweiligen Lebensphasen eines Kindes wichtig werden. Beim ELTERNTALK habe ich erlebt – und erlebe bis heute immer wieder –, wie erleichternd es ist, dass andere Eltern in genau derselben Situation sind wie man selbst. Sie haben dieselben Fragen, ganz ähnliche Probleme. Man stellt fest: Ich bin kein Freak und mein Kind auch nicht. Das, was ich mit meinen Kindern erlebe, ist ganz normal. Andere erleben das auch! Mich haben die Gespräche im Laufe der Jahre zum Beispiel gut auf die Pubertät von meinem ältesten Sohn vorbereitet. Ich wusste: Er wird schon mal die Türen zuknallen, obwohl er ein ganz Lieber ist. Ich habe aber auch erlebt, dass Familien sehr vielfältig sind. Nicht jedes Schema passt für jeden.
Nuray Arslan: ELTERNTALK schafft ein Forum, um über jeweils aktuelle Themen in den Familien zu sprechen, die Trotzphase, den Übertritt in die weiterführende Schule, die Pubertät usw. Da die Runden moderiert werden, entstehen Fachgespräche von Eltern für Eltern, bei denen alle viel voneinander lernen und in ihre Erziehungspraxis umsetzen können.
Was machen Sie als Moderatorinnen?
Nagihan Sisman (lacht): Die Leute erwarten einen Vortrag. Aber genau das machen wir nicht. Das übergeordnete Themenfeld des ELTERNTALKs, z. B. Suchtvorbeugung, wird vorher abgesprochen. Dann machen wir eine Vorstellungsrunde. Anschließend legt die Moderatorin Bildkarten aus, die das vereinbarte Thema vertiefen. Jede Teilnehmerin wählt eine Karte mit einem Thema aus, das sie besonders interessiert …
Nuray Arslan: … Und dann sprechen wir gemeinsam über das Thema und die einzelnen Fragen. Die Moderatorinnen sorgen dafür, dass der Dialog fair verläuft und dass alle zu Wort kommen. In unseren Schulungen haben wir viel über Dialogregeln gelernt. Wenn Gespräche aus der Bahn laufen, fangen wir sie wieder auf und bringen sie zurück auf den Punkt. Wir beziehen auch ruhigere Gäste gezielt mit Fragen ein: „Und wie ist das bei Ihnen, Frau XY?“ – „Was sagen Sie denn dazu?“
ERKLÄRT
ELTERNTALK will Elternkompetenzen stärken. Das bedeutet: Eltern werden in ihren vielfältigen Erziehungsaufgaben unterstützt – damit sie selbst ihre Kinder unterstützen und stärken können. Bei den ELTERNTALKs funktioniert dies auf ganz vielfältige Weise. ELTERNTALKs bringen Eltern miteinander ins Gespräch. Sie fördern das Zugehörigkeitsgefühl. In den Talkrunden können Eltern sich Belastendes von der Seele reden: Eine Frage endlich mal anzusprechen, ist oft schon eine große Entlastung. In ELTERNTALKs kann man viel Nützliches erfahren und voneinander abgucken. Diese und weitere Effekte machen Eltern fürs Elternsein stark.
Was bewegt die Eltern in den Talkrunden?
Nagihan Sisman: Ein ganz wichtiges Thema sind Übertritte, also die Zeit um den Übertritt vom Kindergarten in die Schule und von der Grundschule in die weiterführende Schule. Und die Pubertät …
Nuray Arslan: Auch über Veränderungen in der Familie wird viel gesprochen – wenn ein Geschwisterchen zur Welt kommt, wenn die Großmutter stirbt oder wenn die Eltern sich trennen.
Nagihan Sisman: Konsum und Suchtvorbeugung sind Dauerbrenner. Beides hängt ja eng zusammen. Die Eltern sprechen viel darüber, wie lange Kinder am Computer spielen, fernsehen oder ihr Smartphone nutzen dürfen. Kinder haben Zugriff auf alles – da ist die Suchtgefahr groß.
Nuray Arslan: Bei älteren Kindern wird auch die Frage nach Privatsphäre und Datenschutz immer wichtiger. Wie viel gebe ich z. B. bei Facebook, Instagram, Snapchat oder WhatsApp von meinem Privatleben preis?
Smartphone und Spielkonsole: Wie regeln Sie das zu Hause?
Nagihan Sisman: Mein ältester Sohn ist 13. Ich habe mit ihm verabredet, dass ich sein Smartphone kontrolliere. Ich schaue mir aber nur den Verlauf an – also, welche Websites er besucht hat. Ich sehe, mit wem er bei WhatsApp chattet, aber ich öffne keine Chats. Wir hatten schließlich früher auch Tagebücher und Freundebücher, die niemand anderes lesen sollte.
Als mein Sohn zehn Jahre alt war, wurde die Spielkonsole für ihn ganz wichtig. Ich habe überlegt, wie ich seine Spielzeit einschränken kann: Ein bloßes Verbot erhöht den Reiz ja nur noch! Dann gab jemand in einer ELTERNTALK-Runde den Tipp mit dem Vertrag. Ich habe mit meinem Sohn einen Vertrag geschlossen, schriftlich, mit Datum und Unterschrift und allem Drum und Dran. Darin regeln wir: Wenn er im Haushalt hilft, zum Beispiel den Rasen mäht, darf er eine Stunde spielen. Er hat den Vertrag sehr ernst genommen und hält sich daran. Warum? Weil ich ihn auch ernst genommen habe und wir als gleichwertige Partner eine Vereinbarung getroffen haben.
GESAGT
Okay, das ist die Lösung für Frau XY. Und wie macht ihr das?
Was passiert, wenn in der ELTERNTALK-Runde ganz verschiedene Ansichten aufeinanderprallen?
Nagihan Sisman: Eine Mutter hat zum Beispiel erzählt, dass sie ihre Kinder immer zum Einschlafen vor den Fernseher legt. Darüber wurde dann natürlich schon heftig diskutiert. Wichtig ist aber: Wir bewerten oder verurteilen nicht. Wir sagen als Moderatorinnen: „Okay, das ist die Lösung, mit der Frau XY ihre Kinder zum Einschlafen bringt. Und wie macht ihr das?“ Dann schildern andere Mütter, welches Einschlafritual sie haben. Vielleicht probiert XY eine dieser anderen Methoden selbst aus – und im Idealfall erlebt sie, dass sie funktioniert.
Nuray Arslan: Ja, es treffen Menschen mit völlig unterschiedlichen Erziehungsstilen aufeinander. Die Mutter, die ständig den Fernseher laufen lässt, auch während des Essens. Die Mama, bei der der Fernseher im Kinderzimmer steht – und die andere, bei denen es gar keinen Fernseher gibt. Jede Meinung wird angehört und respektiert, niemand abgewertet. Ich selber habe übrigens in einem ELTERNTALK eine Fernsehregelung aufgegriffen und gemeinsam mit meinen Kindern zu Hause eingeführt: Werktags bleibt der Fernseher aus, am Wochenende dürfen sie bestimmte Sendungen sehen.
Und wie ist das mit den Vätern: Reden sie mit?
Nuray Arslan: Also, in all meinen Jahren als Moderatorin war nur einmal ein Ehemann dabei. Überwiegend übernehmen die Mütter die Erziehungsrolle, die Väter bringen das Geld nach Hause – deshalb sind in den Gesprächsrunden eher die Mütter vertreten.
Nagihan Sisman: Und bei mir vielleicht achtmal. Die meisten Frauen finden das ganz in Ordnung. Sie sagen, dass sie ihren Männern ja abends erzählen, worüber wir gesprochen haben. Ich finde es trotzdem schade, denn Männer könnten nochmal ganz andere Ideen in die ELTERNTALKs bringen. Wir planen jetzt auch eine reine Männergruppe. Bayernweit gibt es schon mehrere Männer, die ELTERNTALKS moderieren. Ein Vater hat sich eine schlaue Methode ausgedacht: Erst wird miteinander geredet, danach gucken alle gemeinsam Fußball.
ÜBRIGENS
Pro Jahr finden in Bayern mehr als 2.500 ELTERNTALKs statt.
2016 haben fast 13.000 Mütter und Väter mitgemacht.
Elternsein verbindet: Die Talkrunden sind bunt gemischt, die Eltern stammen aus Deutschland, der Türkei, Russland und vielen weiteren Ländern – und auch alle Bildungsabschlüsse (von „kein Schulabschluss“ bis „abgeschlossenes Studium“) sind vertreten.
Häufige Fragen zum Thema „Erziehen“ waren u. a.: Wann bin ich eine gute Mami, ein guter Papa? Welchen Freiraum habe ich? Welche Rolle spielen die Großeltern? Kann ich als Elternteil der beste Freund meines Kindes sein?
Was macht Kinder stark?
Nagihan Sisman: Dass man ihr Selbstvertrauen unterstützt, ihnen Aufgaben und Verantwortung überträgt. Dass man ihnen das Gefühl gibt: Ich traue Dir zu, dass Du richtig und falsch unterscheiden kannst.
Nuray Arslan: Dass man sie im Leben begleitet. Dass die Kinder wissen: Meine Familie steht hinter mir. Dass das Kind immer zu mir kommen kann, wenn etwas ist. Meine Kinder und ich lassen jeden Abend gemeinsam den Tag Revue passieren, am Abendbrottisch oder später, auf dem Sofa.
Nagihan Sisman: Meine Tochter erzählt nicht so gerne von sich. Statt in sie zu bohren und sie zu drängen, spiele ich mit ihr ein Spiel. Sie liebt Prinzessinnen. Also reden wir darüber, was die kleine Prinzessin den ganzen Tag über erlebt hat. Das erzählt sie mir dann ganz genau – und zufällig hat die kleine Prinzessin genau dasselbe erlebt wie meine Tochter …
Nuray Arslan: Wichtig ist auch, dass Kinder das Gefühl haben: Meine Eltern stehen hinter mir und zu mir. Egal, was passiert, ich habe volle Unterstützung von ihnen. Eltern sollten auch zulassen, dass Kinder Neues ausprobieren und Fehler machen. Und wenn es gut läuft: die Kinder loben und ihren Erfolg genießen lassen!
Blitz-Antworten: „Familie ist …“
- … heute: ein kleines Unternehmen. (Nagihan Sisman)
- … für unsere Gesellschaft: ein Vorbild. (Nuray Arslan)
- … in Zukunft: hoffentlich keine Rarität … (Nagihan Sisman)
- … in der Türkei: ganz großgeschrieben. Es zählt der Zusammenhalt in der Großfamilie. (Nagihan Sisman)
- … im TV: leider meist total unrealistisch, wie im Bilderbuch. (Nuray Arslan)
- … finanziell: schwierig, aber machbar. Notfalls kann man Unterstützung beantragen. (Nuray Arslan)
- … für mich: Bindung und Halt. (Nuray Arslan) / Spaß, Abwechslung und Verantwortung. (Nagihan Sisman)